Vor einigen Wochen sorgte ein Fall, der vor dem Bundesgerichtshof (BGH) verhandelt wurde, für mediales Aufsehen. Eine frühere Schreibkraft des KZ Stutthof wurde wegen Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen verurteilt. Der BGH bestätigte das Urteil nun mit der Begründung, dass ihre Tätigkeit längst nicht mehr als rein bürokratisch gelten könne. Die Angeklagte ist inzwischen 99 Jahre alt, was bei vielen die Frage aufwarf, ob es gerechtfertigt und notwendig war, ein solches Urteil zu fällen. Als Strafverteidiger in Hildesheim möchte ich in diesem Text genau diese beiden Fragen beleuchten.
Was genau ist passiert?
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Verurteilung einer ehemaligen KZ-Sekretärin wegen Beihilfe zum Massenmord bestätigt. Der 5. Strafsenat in Leipzig wies die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe ab. In diesem Verfahren war die mittlerweile 99-jährige Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie zum versuchten Mord in fünf weiteren Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Mit dem BGH-Urteil ist dieses Urteil nun rechtskräftig. Der Fall könnte eines der letzten Strafverfahren zur juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen sein. Wegen der historischen Tragweite wurden sowohl die mündliche Verhandlung als auch die Urteilsverkündung für das Bundesarchiv aufgezeichnet. Irmgard F. war von Juni 1943 bis April 1945 als Sekretärin in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig tätig. Zu diesem Zeitpunkt war sie 18 bzw. 19 Jahre alt. Das Landgericht kam zu dem Schluss, dass sie durch ihre Arbeit die Verantwortlichen im Lager bei der systematischen Ermordung der Inhaftierten unterstützte.
Die Verteidigung von F. hatte Revision eingelegt, worüber der BGH Ende Juli im Leipziger Reichsgerichtsgebäude mündlich verhandelte. Die Anwälte stellten unter anderem infrage, ob der Frau Vorsatz nachgewiesen werden könne. Sie argumentierten, dass nicht eindeutig belegt sei, ob F. tatsächlich wusste, was im Lager geschah. Zudem habe sich ihre Tätigkeit als Schreibkraft kaum von ihrer früheren Arbeit in einer Bank unterschieden, und sie habe lediglich "neutrale Handlungen" ausgeführt. Diese Argumentation fand jedoch beim 5. Strafsenat des BGH keinen Anklang. Der BGH bestätigte die Einschätzung des Landgerichts Itzehoe, dass F. durch ihre Bereitschaft, ihre Aufgaben zu erfüllen, psychische Beihilfe zu den Mordtaten leistete. Über ihren Schreibtisch lief fast die gesamte Korrespondenz des Lagers, einschließlich Bestellungen des Giftgases Zyklon B. Das Landgericht stellte fest, dass F. den allgegenwärtigen Geruch von verbrannten Leichen zweifellos wahrnehmen musste. In seiner Pressemitteilung bezeichnete der BGH F., die als enge Vertraute des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe galt, als "zuverlässige und gehorsame Untergebene."
Als Anwalt für Strafrecht Hildesheim möchte ich betonen, dass die Frage des Vorsatzes in solchen Fällen eine zentrale Rolle spielt. Die Gerichte mussten sorgfältig abwägen, ob F. bewusst ihre Tätigkeit im Rahmen eines Mordplans erfüllte. Das Urteil zeigt, dass selbst vermeintlich bürokratische Aufgaben im Kontext schwerer Verbrechen strafrechtlich relevant sein können.
Der Fall fügt sich in die etablierte Rechtsprechung zur Beihilfe in Konzentrationslagern ein. Bereits 2011 entschied das Gericht im Fall Demjanjuk, dass die Beihilfe zum Mord durch einen Wachmann als „Teil der Mordmaschinerie“ anerkannt werden kann, auch ohne einen konkreten Tatbeitrag nachzuweisen. Diese Prinzipien bestätigte der BGH 2016 in der Verurteilung von Oskar Gröning, dem „Buchhalter von Auschwitz“. Während diese Urteile Vernichtungslager betrafen, ging es im Fall von F. um Bürotätigkeiten als Zivilangestellte in einem Konzentrationslager. Trotzdem wurde auch hier die Beihilfe zum Mord in zehntausenden Fällen bestätigt.
Der BGH wandte das Konzept der „berufstypisch neutralen Handlungen mit Alltagscharakter“ aus der Beihilfedogmatik an. Er stellte klar, dass F., durch ihr Wissen über die Verbrechen ihrer Vorgesetzten und ihre fortdauernde Mitarbeit, den Alltagscharakter ihrer Tätigkeit verloren hatte und sich mit den Verbrechen ihrer Vorgesetzten solidarisierte.
Exkurs Beihilfe
Was bedeutet „Beihilfe?
„Beihilfe“ bezeichnet laut Definition eine Form der Teilnahme an einer Straftat. Sie liegt gemäß dem Strafgesetzbuch (StGB) vor, wenn eine Person den Haupttäter vorsätzlich bei der Durchführung der Straftat unterstützt. Dies kann beispielsweise das Bereitstellen von Einbruchswerkzeug oder das Geben von Ratschlägen für die Tat umfassen.
Ist Beihilfe strafbar?
Ja, Beihilfe ist strafrechtlich relevant und kann verfolgt werden. Welche Voraussetzungen für eine Verurteilung gegeben sein müssen, erfahren Sie hier.
Welche Strafen drohen bei Beihilfe zu einer Straftat?
Die Konsequenzen der Beihilfe hängen stark vom Strafrahmen der Haupttat ab. Der Gesetzgeber sieht in der Regel eine Strafmilderung vor. Bei einer Freiheitsstrafe beträgt die Höchststrafe für Beihilfe beispielsweise maximal drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes der Hauptstrafe.
War das denn nötig?
Als Anwalt für Strafrecht in Hannover erkenne ich, dass diese Rechtsprechung bedeutende Maßstäbe für die Bewertung von Beihilfe in historischen Kontexten setzt. Die Entscheidung zeigt klar, dass selbst Tätigkeiten, die auf den ersten Blick neutral erscheinen, im Kontext schwerer Verbrechen strafrechtlich relevant sein können. Auch wenn die Straftat schon lange zurückliegt, bleibt festzuhalten, dass Mord grundsätzlich nicht verjährt, insbesondere nicht der größte Massenmord in der Geschichte. Die Tatsache, dass die Angeklagte 99 Jahre alt ist, spielt keine Rolle, solange die Prozessfähigkeit gegeben ist und die Verantwortung für ihre Taten übernommen werden muss.
Da die verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde, kann man das Urteil als eher milde und symbolisch betrachten. Dennoch begrüße ich als Anwalt in Hildesheim diese Entscheidung, da sie ein wichtiges Zeichen für die juristische Aufarbeitung historischer Verbrechen setzt.
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